Die Protonen des Puddings

Die Protonen des Puddings


Nimm ein Puddingteilchen und wirf es gegen die Wand. Mit voller Kraft. Es wird zerplatzen, der Pudding in kleinen Fetzen in alle Richtungen davonfliegen. Jetzt bitte einen guten Freund ein zweites Puddingteilchen gegen Deines zu werfen, beide mit all der Wucht, die ihr habt. Wenn das klappt und beide Teilchen sich genau treffen, bist Du bereit für den nächsten Schritt.
Denn vielleicht seht ihr in dem auseinanderfliegenden Puddingmatsch ein anderes, vollkommen neues Stück, etwa eine Kirsche davonfliegen. Aber das könnte nur passieren, wenn ihr die Teilchen auf eine hinreichend hohe Geschwindigkeit beschleunigen könntet, also sagen wir bis kurz vor die Lichtgeschwindigkeit.
Das wird euch vermutlich nicht ganz gelingen. Deswegen müßt ihr euch schon die Mühe machen, die Atome der Teilchen zu isolieren, und aus deren Kern wiederum am besten die Protonen zu nehmen und die volle Möhre gegeneinander zu schießen.
In einem normalen Raum werden die nicht weit kommen. Sie werden mit anderen Atomen der Luft zusammenstoßen, zum Beispiel mit denen des Sauerstoffs oder des Kohlendioxids. Der Flug der Protonen wäre schnell zu Ende, bevor sie auf Geschwindigkeit kommen könnten.
Also müßt ihr einen möglichst luftleeren Raum nehmen und die Teilchen dort beschleunigen. Dazu eignet sich ein Ring aus Röhren ganz gut. In dem können die Teilchen so lange kreisen, bis man sie braucht. Bei einer gerade Röhre prallen sie immer sofort gegen eine Wand wie Dein erstes Puddingteilchen. 27 Kilometer lang sollte der Ring schon sein, damit Du gut auf Geschwindigkeiten kommst, ohne daß die Fliehkräfte zu stark werden. Und einigermaßen bezahlbar sollte Deine Anlage auch sein. Du bohrst am besten einen Tunnel in die Erde und legst dort Deine Röhren rein. Dann ist Deine Anlage gegen Störungen von außen gut abgeschirmt.
Jetzt kannst Du die Teilchen aber kaum anfassen, festhalten und im Kreis lenken. Am besten bedienst Du Dich der Magnete und ihrer Kräfte. Die funktionieren auch im Vakuum. Magnete bauen - das weißt Du - magnetische Felder auf, wenn ein elektrischer Strom hindurchfließt. Der Strom muß schon ziemlich stark sein, damit die magnetischen Kräfte so hoch sein können, damit sie die Protonen im Zaum halten können. Ein Tipp: Du benötigst so viel Strom, wie eine mittlere Stadt braucht.
Doch die Kupferkabel, mit denen Du den Strom leiten willst, müßten extrem dick sein und würden sich ziemlich stark erwärmen. Daher kommst Du auf die glänzende Idee, die Kabel sehr stark abzukühlen, sagen wir auf bis minus 271 Grad Celsius. Viel kälter geht es nicht mehr; -273,15 Grad Celsius gilt als absoluter Nullpunkt.
Bei diesen tiefen Temperaturen bemerkst Du einen verblüffenden Effekt: Der Strom fließt ohne Widerstand durch Dein Kupferkabel. Schlagartig läßt der Widerstand nach. Sprungtemperatur nennen das die Physiker. Die ist bei jedem Stoff anders. Der Grund für dieses merkwürdige Verhalten sind quantenmechanische Effekte, aber das lassen wir jetzt mal.
Du brauchst nur ein Mittel, um Deine Magnete auch abkühlen zu können. Deine Wahl fällt vermutlich auf Helium, bei Zimmertemperatur ein farbloses Gas, das flüssig wird, wenn Du es stark abgekühlt. Helium ist zwar recht teuer, hat aber den Vorteil, viel Kälte transportieren zu können.
Du musst Deine Aggregate irgendwo hinstellen, um das Helium stark abkühlen zu können. Der Kompressor Deines Kühlschranks reicht dafür nicht aus, auch wenn Du 1000 Stück nebeneinanderstellen würdest.
Du brauchst nämlich 140 t Helium, das Du über Leitungen zu all Deinen Magneten leiten musst. Jetzt hat das tiefgekühlte Helium eine ziemlich blöde Eigenschaft: Es wird nicht nur superkalt, sondern auch superflüssig oder supraflüssig, wie die Wissenschaftler sagen. Das bedeutet, es kriecht durch sämtliche Ritzen und Isolierungen von Deinen Pumpen, Leitungen und Ventilen, die Du brauchst, um das Helium zu Deinen Magneten leiten zu können.
Du musst Dir also einiges einfallen lassen, wie Du mit diesem Zeugs umgehst. Aber lass Dir gesagt sein: Es kann klappen, wenn Du Dich sehr geschickt anstellst.
Ein weiterer Tipp: Du musst noch die Erdanziehungskraft berücksichtigen. Das kennst Du nämlich von Zuhause, wenn Du eine Schüssel mit Wasser schräg an einer Ecke anhebst. Der Wasserspiegel bleibt immer waagerecht; in der tiefergelegenen Ecke jedoch sammelt sich mehr Wasser als in der anderen höher gelegenen.
Das Gleiche passiert auch bei Deiner Anlage: Der Kreis der Röhren liegt nicht eben unter der Erde, sondern leicht geneigt, genau um 1,2°. Das reicht schon, um Dein flüssiges Helium auf die leicht tiefer liegende Seite fließen zu lassen. Das drückt leicht auf das Helium, und Druck bedeutet wieder wärmer (kennst Du auch). In der tieferliegenden Seite wird Dein Helium also nicht genügend kalt sein, so dass Du für einen gleichmäßigen Druck des Heliums in Deinem ganzen System sorgen musst. Aber auch das kannst Du mit Hilfe von Sensoren, Pumpen und viel Computertechnik lösen.
Jetzt hast Du also deinen schönen Ring und lässt ihn abkühlen. Doch Vorsicht: Nicht zu schnell, sonst gehen Deine Anlagen kaputt. Du musst Dir schon ein paar Monate Zeit nehmen, um Deine Supermaschine auf -271° abzukühlen.
Dann schaltest Du den Strom für die Magnete ein. Sag aber bitte vorher Deinem Elektrizitätswerk Bescheid, damit die rechtzeitig genügend Strom bereitstellen.
Als Nächstes musst Du Deine Magnete nur noch ein wenig trainieren. Nein, Muskeln müssen sie nicht ansetzen, aber sie müssen sich ein wenig eingewöhnen. Die Kabel sind ja dicht an dicht um einen Eisenkern gewickelt. Fließt der Strom, beginnen die magnetischen Kräfte zu wirken. Die Kabel bewegen sich leicht und rücken sich gewissermaßen zurecht. Jetzt kannst Du die Leistung volle Kanne aufdrehen.
Du blickst voll Stolz auf Deine Überwachungsmonitore, hast Deine Röhre so luftleer gepumpt, dass sogar am letzten, verlassensten Ort im Weltraum noch mehr Moleküle zu finden sind, dann kannst Du Atomteilchen in den Ring schießen.
Wo nimmst Du die Teilchen her? Das ist noch die vergleichsweise einfachste Aufgabe. Du nimmst eine kleine Gasflasche gefüllt mit Wasserstoff und schließt sie an die Anlage an. Eine Füllung reicht etwa ein Jahr. Von hier aus starten die Atomteilchen ihre rasante Reise durch den Ring des Beschleunigers.
Du hast Dir eine Vorrichtung gebaut, die so ähnlich wie ganz früher die alten Fernsehröhren funktioniert, wenn Du Dich daran noch erinnerst. Aus einer glühenden Kathode, im Prinzip einem mit Strom bis zur Weißglut erhitzten Draht, treten Elektronen aus der Metalloberfläche aus. Die ziehst Du mit einer sogenannten Anode, einem positiv geladenen Metallteil, einfach an. Richtig, das ist schon im Prinzip ein kleiner Teilchenbeschleuniger. Eine alte Fernsehröhre war auch nichts anderes, allerdings deutlich schwächer als Dein neuer super Teilchenbeschleuniger.
Die beschleunigten Elektroden treffen jetzt auf die Atome des Wasserstoffgases aus Deiner kleinen Flasche und prallen heftig mit ihnen zusammen. Dabei schlagen sie genau ein Elektron aus der Hülle des Wasserstoffatoms heraus. Übrig bleibt das Proton aus dem Kern des Wasserstoffatoms.
Jetzt solltest Du etwa 90.000 V zur Verfügung haben und die wiederum an eine jetzt negativ geladene Kathode anlegen. Die Protonen, die bekanntlich positiv geladen sind, fliegen mit Begeisterung auf Deine Kathode zu und werden weiter beschleunigt. Dabei bekommen sie eine bestimmte Bewegungsenergie mit. Diese Energie beschreiben die Physiker mit der Einheit Elektronenvolt, abgekürzt eV. Deine alte Fernsehröhre hatte früher die Elektronen auf 5000 eV beschleunigt. Jetzt mußt Du auf 13 TeV kommen, das sind ziemlich viele Nullen mehr.
Die Protonen sind jetzt etwa 15 Millionen km/h schnell; das klingt schon ziemlich schnell, sind aber nur 1,4 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Deine Teilchen sind also noch längst nicht schnell genug, um später ordentliche Atomteilchen weiter zertrümmern zu können. Da musst Du noch viel, viel mehr Energie hineinpumpen.
Du hast ja Dein Elektrizitätswerk vorgewarnt und kannst Deinen Protonen jetzt ordentlich Zunder geben. Du musst nur zusehen, dass Du die Energie gut auf die Teilchen übertragen kannst. Im Auto hast Du’s einfach: Du gibst Gas, die Reifen übertragen die Kraft des Motors auf die Straße, und Du bewegst dich vorwärts.
Das klappt in Deinem Beschleuniger nicht. Die Teilchen fliegen im luftleeren Raum, Du kannst sie nicht anfassen. Auch ein Golfschläger hilft Dir nicht, die Teilchen anzutreiben. Deine Wahl fällt auf Radiowellen. Du baust Dir einfach passende Magnete, die nebeneinander stehen und schnell ihr elektromagnetisches Feld wechseln. Kommt das Proton, das positiv geladen ist, von links angeflogen, muß der erste Magnet ein negatives Feld aufweisen und kann das Teilchen anziehen.
Jetzt musst Du nur ganz schnell das Feld des benachbarten Magneten ändern, damit der dann das Teilchen weiter anzieht, und es dabei schneller macht. Eine ziemlich knifflige Angelegenheit, weil Du wissen musst, mit welcher Geschwindigkeit das Teilchen ankommt und Du entsprechend schnell deine Magnetfelder wechseln musst. Das muß zum richtigen Zeitpunkt geschehen. Aber keine Bange, mit ein wenig Übung bekommst Du das gut hin. Du kennst das von Deiner Schaukel früher: Zu einem bestimmten Zeitpunkt hast Du einen Anstoß bekommen und die Schaukelbewegung wurde verstärkt. Es ist das gleiche Prinzip.
Diese Beschleuniger nennt man übrigens Hohlraumresonatoren; Du brauchst 16 davon, um die Teilchen bis kurz vor die Lichtgeschwindigkeit anzutreiben.
Dann lass es krachen. Du hast den Beschleuniger so gebaut, dass zwei Röhren parallel verlaufen, in denen Deine Teilchen in genau entgegengesetzter Richtung kreisen. Du hast natürlich Weichen für die Protonen eingebaut und kannst sie jetzt gegeneinander lenken. Du musst nur ein wenig zielen, dass die Teilchen genau aufeinanderprallen. Denn der Strahl ist dünner als ein menschliches Haar; und Du musst ihn mit magnetischen Linsen ziemlich gut fokussieren. Aber das hast Du ja vorher mit Deinem Kumpel und den Puddingteilchen geübt.
Wenn Du Glück hast und heftig genug die Teilchen gegeneinander schleuderst, entsteht neben vielen anderen ein neues Teilchen, wie unsere Kirsche zum Beispiel.
Der ganze atomare Crash geschieht in einem sehr kurzen heftigen Feuerball, den Du aber nicht sehen kannst. Glücklicherweise hast Du vorher spezielle Sensoren gebaut, die ähnlich wie in einer Digitalkamera einen elektrischen Impuls aussenden, sobald ein Lichtteilchen auf sie trifft. Diese Sensoren ordnest Du wie die Schalen einer Zwiebel in dichten Lagen um den Kollisionenpunkt an.
Leider ist Dein Gerät dabei ein wenig groß geworden, etwa 25 Meter hoch, 46 Meter lang und 7000 Tonnen schwer. Aber ohne einen solchen Giganten wirst Du niemals die kleinsten Teilchen sehen, aus denen unser Universum aufgebaut ist - also auch Du, Dein Tisch, an dem Du sitzt, Dein Monitor, an dem Du diesen Text liest.
Du brauchst ein paar 1000 Sensoren, verbindest jeden Einzelnen über eine Leitung mit Deinem Computer. Diejenigen Sensoren, durch die gerade ein Teilchen fliegt, liefern einen elektrischen Impuls. Dein Computer rechnet dann die Bahn aus und zeigt sie Dir graphisch an. Daraus kannst Du dann wieder auf die Masse und die Energie Deines Teilchens schließen.
Wenn Du häufig genug Protonen gegeneinander prallen lässt, und wenn Du dabei vielleicht immer wieder genau Spuren eines Teilchens findest, die Du noch nie gesehen hast, hast Du ein neues Teilchen gefunden und bekommst einen Nobelpreis. Doch dafür mußt Du schon ein paar Jahre die Teilchen aufeinander schießen, damit Du auch ganz sicher sein kannst, die Spuren eines neuen Teilchens gesehen zu haben und nicht etwa ein Zufallsereignis oder das Grundrauschen der Detektoren.
Nur zur Orientierung: Beim berühmten Higgs-Teilchen, das am CERN nachgewiesen wurde, hat es von der Vorhersage bis zum anerkannten wissenschaftlichen Beweis 40 Jahre gedauert

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